Eine der faszinierendsten Fortschritte heutiger Neurowissenschaft betrifft die Funktionsweise unseres Sehsystems: Wie schaffen wir es, dass wir auf einen Blick wissen, ob vor uns ein Buch liegt oder eine Katze sitzt? In Bruchteilen von Sekunden.

Normalerweise würde man denken, dass die Rezeptoren in unserer Netzhaut auftreffendes Licht in Signale umwandelt, in das Gehirn weiterleitet, wo die von Nervenzellen als Information weiterverarbeitet werden, bis die Objekte (Katze, Buch) interpretiert und identifiziert sind.

Aber nein. So funktioniert unser Gehirn nicht. Es arbeitet gerade umgekehrt. Ein Großteil der Signale reist nicht von den Augen ins Gehirn, sondern viel mehr in entgegengesetzter Richtung. VOM GEHIRN IN DIE AUGEN (Behavioral and Brain Sciences 36 (2013) 181).

Das Gehirn ERWARTET also aufgrund vorhergesehener Geschehnisse und seines gesammelten Wissens, dass es etwas sieht. Es erstellt dazu ein Bild als Vorausschau, was die Augen sehen müssten. Diese Information wird vom Gehirn an die Augen übermittelt.

JETZT KOMMT´S: Wird eine ABWEICHUNG zwischen den Erwartungen des Gehirns und dem Lichtsignal ermittelt dann – UND NUR DANN – werden über die neuronalen Schaltkreise Signale ans Gehirn geschickt.


Vom Auge zum Gehirn wandert also nicht das gesamte Bild der beobachteten Umgebung, sondern nur die Meldung eventueller ABWEICHUNGEN von dem, was das Gehirn erwartet.


Eine hoch-effiziente Methode, die heute auch von Informatikern benutzt wird, um Bilddateien zu komprimieren. Anstatt die Farbe sämtlicher Pixel abzuspeichern, wird nur die Information gespeichert, wo Farbe sich verändert.


Bemerkenswert. Wir beobachten also nicht wirklich. Wir träumen uns viel mehr (dank Wissen und Vorurteilen) ein Bild von der Welt zusammen und überprüfen völlig unbewusst nur auf eventuelle Abweichungen.


Genau das ist Wissenschaft. Auch hier suchen wir nach Abweichungen von dem, was wir erwarten und dem, was wir messen/sehen/fühlen/riechen/hören… Wir haben – Stichwort Kultur! – bestimmte Anschauungen über die Welt, die wir dann, wenn sie fehlgehen, zu verändern suchen.

Auf diese Art ist das gesamte Menschliche Wissen entstanden.

PS: Scheint zu stimmen. Ich guck mir an das Foto einer Bergkette. Hochgebirge. In der Mitte das Matterhorn. Tatsächlich gucke ich mir nicht jede einzelne der 40 Bergspitzen an. Das habe ich schon 100 x gesehen, das verschwimmt… Nur das Matterhorn ist auf diesem Bild etwas nach links geneigt, nicht, wie von mir erwartet nach rechts. Das speichere ich ab. Das war´s.

PS II: Gerade besucht mich mein Bruder. Den kenne ich jetzt schon 78 Jahre. Guck ich mir den wirklich an? Hab darüber nachgedacht: Natürlich nicht. Mir ist nur aufgefallen, dass er sich heute etwas besser rasiert hat. Das war die Abweichung. Den übrigen Menschen hatte ich bereits gespeichert. Brauch ich gar nicht hinzugucken.

PS III: Entstehen so Kriege? Der benimmt sich einfach nicht so, wie ich es von ihm erwarte (Urteile, Vorurteile). Dann wollen wir das Bild doch einmal verändern, nicht wahr?

PS IV: Hingucken! Hier erschließen sich Ihnen völlig neue Welten. Bewusst hingucken. Die einfachste Art, Ihren quälenden inneren Dialog zu stoppen.

Quelle: Rovelli in „Helgoland“. Wächst mir zunehmend ans Herz.